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Die Natur braucht uns nicht
Vor knapp 20 Jahren stellt der schwedische Philosoph der Oxford University Nick Bostrom eine kühne Hypothese auf: Wir alle leben in einer Computersimulation. Laut seiner Simulationshypothese wurde unser Universum, samt Bewohner, mittels eines Supercomputers von der Größe unserer Erde generiert – was uns alle zu mehr oder weniger intelligenten Avataren in einer Software-Matrix macht. Klingt verrückt?
Dem antiken Philosophen Platon hätte dieser Gedanke wahrscheinlich gefallen, denn er sah sich schon vor über 2000 Jahren in einer Scheinwelt gefangen, was er in seinem berühmten Höhlengleichnis zum Ausdruck brachte. Die Frage nach Herkunft und Realität ist also nichts Neues, sie ist ein Evergreen. So führten Wissenschaftler der Universität Montreal im Frühjahr letzten Jahres neue Abschätzungen zur besagten Simulationshypothese durch. Ihren Ergebnissen zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit der Alien-Simulation „weit unter 50 Prozent“. Zwar sei es von der Rechenleistung theoretisch möglich, uns Menschen mitsamt Gedanken zu simulieren, es wäre aber zu viel Aufwand damit verbunden – und es würden sich Fehler einschleichen, wie etwa ein Computerabsturz. Das ist doch beruhigend… oder?
Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Zwei große Fragen, die uns seit Jahrtausenden bewegen – als Mensch, als Gesellschaft, als Unternehmer.
Wer den Menschen geschaffen hat, hängt davon ab, welchem Schöpfungsmythus wir Glauben schenken. Wir können es nicht mit Einigkeit sagen. Was wir aber sagen können, ist: Wir sind in größere Kontexte eingebettet als Teil eines großen Ganzen, Teil einer Gesellschaft – Teil der Natur. Praktisch alles, was der Mensch geschaffen hat, hat schließlich seinen Ursprung in ihr. Die Schönheit und Kraft der Natur, ihre kleinen und großen Wunder sind seit Urzeiten Inspirationsquelle für große Künstler. Von Monets Seerosengemälde über Beethovens Pastorale bis hin zu Andy Goldsworthy, bei dem Naturmaterialien selbst zum vergänglichen Kunstwerk werden. Das Gleiche gilt für die Technik.
Ein Beispiel aus der Geschichte ist Leonardo da Vincis Idee, den Vogelflug auf Flugmaschinen zu übertragen. Ein Vogel war es auch, der dem Ingenieur Eiji Nakatsu als Vorbild bei der Weiterentwicklung des japanischen Hochgeschwindigkeitszuges diente. Genauer gesagt der Eisvogel. Er erkannte, dass dieser mit hoher Geschwindigkeit ins Wasser tauchen konnte und erforschte, wie er sich so schnell an den Übergang von niedrigem Luft- zu hohem Wasserwiderstand anpasst. Dementsprechend wurde die Nase des Zugs umgebaut und der erzeugte Luftdruck so um 30 Prozent reduziert. Der Zug wurde leiser, 10 Prozent schneller und er verbraucht 15 Prozent weniger Strom.
Die Natur war Vorbild für viele technologische Errungenschaften, die Fortschritt und Wohlstand brachten. Doch viele Erfindungen brachten mehr als das, nämlich unerwünschte Spätfolgen – für Mensch und Natur. So war die Erfindung der Röntgenstrahlen beispielweise eine Revolution für die Medizin. Doch ab der Jahrhundertwende kamen mobile Röntgenapparate in Mode, mit denen man sich auf Partys zum Spaß „fotografierte“. Und nicht nur dort: Über 10.000 „Schuh-Fluoroskope“ sollen Anfang der 50er-Jahre in besseren amerikanischen Schuhläden mit großem Erfolg in Betrieb gewesen sein. Da strahlten nicht nur die Schuhverkäufer. Heute weiß man es besser. Oder?
„Probleme kann man niemals mit der- selben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Albert Einstein
Fakt ist: Der Mensch greift seit Beginn der Industriellen Revolution vor rund 200 Jahren massiv in die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde ein. Und zwar so, dass die Auswirkungen noch 300.000 Jahre später zu spüren sein werden. So ließ die „grüne Revolution“ der 60er-Jahre beispielsweise die Ernten explodieren und die globale Agrarproduktion schneller wachsen als die
Bevölkerung. Doch der Dünger ließ nicht nur Nutzpflanzen sprießen, sondern vergiftete gleichzeitig das Grundwasser. Die Pestizide töteten zwar Schädlinge, aber auch wertvolle Insekten. Und mit ihnen Vorbilder aus der Natur, von denen wir hätten lernen können.
„Die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.“ Johann Wolfgang von Goethe
Gelernt haben wir daraus durchaus. Nämlich, dass wir nur im Einklang mit der Natur auf Dauer bestehen können. Die Natur braucht uns nicht, aber wir brauchen sie. Wir sind es, die von der Natur leben und lernen. Schließlich hat keiner so lang überlebt wie sie. Beinahe jede Art – oder wie der Techniker sagen würde, jedes „Modell“ – hat Millionen Jahre Entwicklung hinter sich. Ein neues Umweltbewusstsein avanciert deshalb nicht nur zunehmend zur gesellschaftlichen Bewegung, sondern auch zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor. Konsumierende wie Unternehmer etablieren neue Logiken, Werte und Lösungen. Es gilt, sich auf das Wesentliche zu besinnen als Chance für Entwicklung und Innovation. Mit Technologien, die den Menschen entlasten und Freiraum für neue Gedanken und Konzepte schaffen. Und auch hier blicken wir wieder in die Natur. Biologisches Wissen wird via Bionik, Biotechnologie und Bioökonomie für die Wirtschaft und Industrie zunehmend verfügbar und durch die digitale Vernetzung auch erfassbar, auswertbar, anwendbar. Wichtig ist dabei, unsere Rolle zu verstehen: Wir sind weder Zerstörer noch Retter der Welt. Es gilt, die Natur nicht nur als Ressource zu betrachten, sondern als das größte Wunder von allen: staunen, sich erfreuen, dankbar sein. Auch wenn wir nicht mit Gewissheit sagen können, wo wir herkommen. Wir können jetzt darüber entscheiden, wo wir hingehen.